Offener Brief bezüglich der Montagsdemonstrationen in Pirna und insbesondere zu den langen Einkesselungen

Offener Brief bezüglich der Montagsdemonstrationen in Pirna und insbesondere zu den langen Einkesselungen

Innerhalb der Polizeieinsätze wurden am 13.12.2021 sowie am 10.01.2022 friedliche Spaziergänger mehrere Stunden lang eingekesselt. Aus meiner Sicht waren mehrere polizeiliche Maßnahmen eindeutig unverhältnismäßig. Ich habe Herrn Staatsminister Roland Wöller hierzu einen offenen Brief geschrieben und ihn damit konfrontiert. 

Offener Brief zur Verhältnismäßigkeit der Polizeimaßnahmen bei Montagsspaziergängen in Pirna

Sehr geehrter Herr Staatsminister Prof. Dr. Wöller,

als Mitglied des Deutschen Bundestags wende ich mich mit diesem offenen Brief an Sie. Innerhalb Ihres Zuständigkeitsbereiches als Staatsminister des Innern in Sachsen kam es in den letzten Wochen zu polizeilichen Maßnahmen, welche in ihrer Art und ihrem Umfang aus meiner Sicht unverhältnismäßig waren.

Wie Ihnen sicherlich bekannt ist, gehen Menschen in vielen Städten Sachsens seit Wochen spazieren. Überwiegend verhalten sich diese Menschen hierbei vollkommen friedlich. Ein reiner Spaziergang mehrerer Menschen stellt jedoch keine Versammlung und keinen Aufzug im Sinne des Sächsischen Versammlungsgesetzes dar, weil einem individuellen Spaziergang die Finalität zur gemeinschaftlichen, überwiegend auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung fehlt.

Beispielhaft verweise ich auf zwei Maßnahmen der Polizei in Pirna, welche mir von geschädigten Bürgern vorgetragen wurden beziehungsweise bei denen ich selbst anwesend war.

Am Montag, den 13.12.2021, wurden ab circa 19.00 Uhr mehrere Dutzend Menschen auf dem Pirnaer Markt durch Polizeibeamte festgesetzt. Durch Polizeiansage wurden die Menschen angewiesen, den Markt zu verlassen. Etwa 200 Menschen entfernten sich in Richtung der Töpfergasse. Dort wurden sie von Polizeieinheiten überholt, welche dann am Ende der Straße den Zugang zur Lange Straße sperrten. Ebenfalls wurde der Zugang zum Kirchplatz in Höhe des Lokals Refugium von der Polizei gesperrt. Die Polizei trieb die gestoppten Personen wieder auf den Markt zurück und führte sie in Höhe der Zufahrt zur Badergasse Steffen Janich, MdB, Platz der Republik 1, 11011 Berlin Herrn Staatsminister Prof. Dr. Roland Wöller Sächsisches Staatsministerium des Innern 01095 Dresden Berlin, 13.01.2022 Bezug: Anlagen: Steffen Janich, MdB Platz der Republik 1 11011 Berlin Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein. Seite 2 zusammen, wo sie von Polizeieinheiten umstellt wurden. Die dort eingesetzten niedersächsischen Polizeikräfte ließen auch zufällig passierende Personen, welche mit dem vorherigen Geschehen nicht in Verbindung standen, nicht aus dem Polizeikessel heraus. Die dort festgesetzten Personen wurden teilweise bis zuletzt kurz vor 24 Uhr in dieser Einkesselung festgehalten. Die Identitätsfeststellungen der Personen begannen erst mit reiflicher Verzögerung nach deren Festsetzung. Ich selbst nahm diese Abgänge erst nach etwa zwei Stunden nach der Festsetzung erstmals wahr. Ab dieser Zeit wurden Personen von der Polizei einzeln abgeführt um eine Identitätsfeststellung mit ihnen durchzuführen. Ich verließ den Kessel etwa 23.59 Uhr als Letzter. An diesem Abend war es gefühlt sehr kalt und nass. Zahlreiche Menschen teilten mir und der Polizei in Gesprächen mit, dass die Maßnahme viel zu lange dauere. Sie froren. Die festgesetzten Personen wollten nach fortgeschrittener Zeit nichts Anderes als heimgehen. Das Auftreten der niedersächsischen Polizeikräfte war teilweise sehr aggressiv. Betroffene schilderten mir, dass die Polizei eine Radfahrerin, welche ihr Fahrrad geschoben hatte, nach hinten stieß, sodass sie rückwärts über das Fahrrad fiel. Ich selbst wurde Zeuge davon, wie ein niedersächsischer Polizeibeamter einem Eingekesselten mit der rechten Faust ins Gesicht schlug. Ich stand in dieser Situation circa zwei Meter neben dem Geschädigten. Der eingesetzte Schlag war nach Art und Maß auch in keiner Weise dem Verhalten und dem Zustand des Betroffenen angemessen. Der Einsatz körperlicher Gewalt wurde auch nicht angedroht. Der Geschädigte wollte dies beanzeigen. Die Polizeibeamten aus Niedersachsen reagierten hierauf nicht. Der ausführende Polizeibeamte gab seine Personalien trotz Nachfrage nicht bekannt. Die Dauer des Abführens einzelner Betroffener zog sich wie bereits geschildert bis Mitternacht. Lediglich eine Person wurde jeweils aus der Einkesselung geholt. Die Abstände der einzelnen Maßnahmen dauerten meist über fünf Minuten. Aufgrund der Präsenz der Polizei hätten hier mehrere Kontrollstellen eingerichtet werden können, um die Maßnahme wesentlich zu beschleunigen.

Ein ähnliches Ereignis hat sich am 10.01.2022 ebenfalls in Pirna zugetragen. Auch hier hielt die Polizei in der Klosterstraße auf Höhe der Rosa-Luxemburg-Straße von circa 19.45 Uhr bis um 00.30 Uhr nachts (sic!), mithin beinahe fünf Stunden, etwa 400 Leute in einem „Polizeikessel“ fest. Unter den Festgesetzten befanden sich zahlreiche Minderjährige. Gegen mindestens zehn Leute wurden Reizstoffe als Hilfsmittel der körperlichen Gewalt eingesetzt. Die eingeschlossenen Personen wurden über die gesamte Zeit nicht mit Lebensmitteln oder Trinkwasser versorgt. Trotz zahlreicher Bitten gestattete der Polizeivollzugsdienst es den Seite 3 Adressaten der polizeilichen Maßnahme nicht, einen Toilettengang zu erledigen, obwohl diese darum gebeten hatten. Die Menschen mussten über Stunden in der Eiseskälte verharren. Aufgrund der Kesselung in der Klosterstraße waren die Betroffenen gezwungen, so stark zusammenzurücken, dass sie zueinander den Abstand von 150 Zentimetern unterschreiten mussten. Auch hierbei hielten es die eingesetzten Beamten vermutlich nicht für nötig, während der mehrstündigen Maßnahme einen richterlichen Beschluss zur Aufrechterhaltung der Freiheitsentziehung einzuholen. Den Betroffenen der Einkesselung ist es zumindest gegenwärtig nicht bekannt, dass ein solcher richterlicher Beschluss nachträglich eingeholt worden wäre.

Hinzu kommt, dass die eingesetzten Polizeibeamten die Maßnahmen zur Identitätsfeststellung auch in diesem Fall dem Eindruck der Eingeschlossenen nach klar in die Länge zogen. Obwohl nachweislich mindestens ein Dutzend Polizeibusse samt Besetzung im Abstand von ein paar Metern zu den Spaziergängern standen, wurden stets nur zwei Leute gleichzeitig kontrolliert. Hierdurch erfolgte die Freiheitsentziehung deutlich länger als maximal notwendig gewesen wäre. Zum Vergleich: in einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2016 hat dieses die Einrichtung eines Polizeikessels gegenüber Demonstrationsteilnehmern ausnahmsweise für rechtmäßig befunden, als eine Gruppe der Teilnehmer eine Vielzahl von Straftaten statt bloßer vermeintlicher Ordnungswidrigkeiten begangen hatte und die Polizei zum Verlassen des Kessels 15 Durchlassstellen eingerichtet hatte, welche die Feststellung der Identität von drei Personen pro Minute vor Ort ermöglichten (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 02.11.2016, Az.: 1 BvR 289/15).

Das polizeiliche Aufheben der Fortbewegungsfreiheit von Menschen auf einem engen Raum über einen längeren Zeitraum ist keine bloße Freiheitsbeschränkung, sondern eine Freiheitsentziehung. Es sei hierzu auf die Rechtslage verwiesen, an der sich auch die Sächsische Landesregierung messen lassen muss, wenn sie von dem Bestehen einer Versammlung ausgeht. Unter polizeirechtlichen Gesichtspunkten stellt nicht nur die Aufrechterhaltung der Freiheitsentziehung, sondern auch die Einkesselung eine Maßnahme des Gewahrsams dar (vgl. VG Karlsruhe Urteil vom 10.12.2018-1 K 6428/16, Rn. 50). Die Freiheitsentziehung erfordert nach Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG grundsätzlich eine vorherige richterliche Anordnung. Eine nachträgliche richterliche Entscheidung, deren Zulässigkeit in Ausnahmefällen Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG voraussetzt, genügt nur, wenn der mit der Freiheitsentziehung verfolgte Seite 4 verfassungsrechtlich zulässige Zweck nicht erreichbar wäre, sofern der Festnahme die richterliche Entscheidung vorausgehen müsste (vgl. BVerfGE 22, 311 <317>). Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG gebietet in einem solchen Fall, die richterliche Entscheidung unverzüglich nachzuholen (vgl. BVerfGE 10, 302 <321>). "Unverzüglich" ist dahin auszulegen, dass die richterliche Entscheidung ohne jede Verzögerung, die sich nicht aus sachlichen Gründen rechtfertigen lässt, nachgeholt werden muss (vgl. BVerfGE 105, 239 <249>). Nicht vermeidbar sind zum Beispiel Verzögerungen, die durch die Länge des Weges, Schwierigkeiten beim Transport, die notwendige Registrierung und Protokollierung, ein renitentes Verhalten des Festgenommenen oder vergleichbare Umstände bedingt sind (vgl. BVerfGE 103, 142 <156>; 105, 239 <249>) - Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Dezember 2005, Az.: - 2 BvR 447/05 -.

Unter präventiv-polizeilichen Gesichtspunkten ist der juristischen Literatur eindeutig zu entnehmen: „Die polizeiliche Ingewahrsamnahme aller noch anwesenden Teilnehmer einer verbotenen oder aufgelösten Demonstration durch Einkesselung, um diese zeitversetzt zu entlassen, zu zerstreuen oder ggf. zu einer Identitätsfeststellung ist ausnahmsweise zulässig, wenn nicht anders verhindert werden kann, dass die Teilnehmer als geschlossene Ansammlung der Polizei ausweichen und sich ihrer gesetzlichen oder durch Platzverweis angeordneten Pflicht, sich zu entfernen, entziehen (KG Berlin NVwZ 2000, 468). In keinem Fall darf die Einkesselung die Auflösung ersetzen oder dazu führen, dass Teilnehmer oder Unbeteiligte daran gehindert werden, zu gehen.“ (vergleiche Dürig-Friedl/Enders/Dürig-Friedl, VersammlG, 1. Auflage 2016, § 15 Rn. 172).

Die Vorgehensweise der Polizeieinheiten am 10.01.2022 missachtet diese Vorgaben schlichtweg. Weder ist zuvor eine Demonstration gegenüber den Spaziergängern aufgelöst worden, noch war eine Demonstration verboten. Ebenso wenig war diese Maßnahme notwendig. Hätten sich einige Passanten nach entsprechender Aufforderung durch die Polizei wirklich nicht entfernt, hätten sie als milderes Mittel zu Kleingruppen zerstreut fortgeschickt oder eskortiert werden können, um eine geschlossene Ansammlung aufzulösen. Am gravierendsten ist der Umstand, dass erst durch den „Polizeikessel“ die Auflösung einer Ansammlung von Personen verhindert worden ist. Teilnehmer und Unbeteiligte in Pirna wurden daran gehindert, die Örtlichkeit zu verlassen. Dass das stundenlange Festhalten in der Kälte ohne Getränke und sanitäre Einrichtungen aufgrund eines möglichen Anfangsverdachts einer Ordnungswidrigkeit nicht nur Seite 5 unverhältnismäßig, sondern schlichtweg menschenunwürdig ist, bedarf keiner weiteren Erwähnung.

Sehr geehrter Herr Staatsminister Wöller, das geschilderte Verhalten der in Pirna eingesetzten Beamten ist kein Einzelfall in Sachsen. Es ist in den letzten Wochen ein Massenphänomen Ihrer Behörde. Ich kann nur hoffen, dass jeder unrechtmäßig Betroffene hiergegen den Rechtsweg beschreitet. Es ist aber an Ihnen, Recht und Gesetz auch dann zu wahren, wenn (noch) kein Richterspruch Sie hierzu zwingt. Auch die von der Sächsischen Landesregierung nach eigenem Bekunden verfolgte Bekämpfung des Corona-Virus entbindet Sie und Ihr Kabinett nicht von der Treue zum Recht.

Ich fordere Sie nachdrücklich auf: Tragen Sie dafür Sorge, dass friedliche Passanten im Freistaat Sachsen in Zukunft nicht länger menschenunwürdigen Behandlungen ausgesetzt werden. Wahren Sie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Tragen Sie dafür Sorge, dass polizeiliche Maßnahmen, beispielsweise die der Identitätsfeststellung, nicht dazu führen, dass Menschen über Stunden in der Kälte verharren müssen. Das Recht auf Versammlungsfreiheit ist ein Grundrecht, das allen Deutschen gleichermaßen zusteht.

Mit freundlichen Grüßen,
Steffen Janich MdB

PDF Version anzeigen

Keine Kommentare